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Kooperationen für die Open-Access-Transformation in den Sozialwissenschaften

Interview mit Dr. Agathe Gebert, Teamleitung Library and Open Access bei GESIS Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften

Was hat sich in Ihrer Einrichtung in Bezug auf Open Access in den letzten Jahren verändert?

GESIS ist die führende Infra­struktureinrichtung für die Sozial­wissen­schaften in Deutschland und entwickelt als solche forschungsbasierte, innovative digitale Produkte und Dienstleistungen für die Disziplin. Seit 2006 betreiben wir den mit DFG-Förderung entwickelten disziplinären Volltextserver Social Science Open Access Repository (SSOAR), der in Kooperation mit vielen Partnern eine Infrastruktur für Zweitveröffentlichungen (Grüner Open Access) bereitstellt. Mit derzeit 60.000 Volltexten ist SSOAR das größte Fachrepositorium für die Sozialwissenschaften.

Vorteil für alle archivierten Publikationen ist, dass wir jedem Volltext im Zuge der Veröffentlichung einen Persistent Identifier (PID), also ein URN (Uniform Resource Name) oder ein DOI (Digital Object Identifier) zuweisen. Zudem wird jede Veröffentlichung hochwertig erschlossen. Wir nutzen dazu neben freien Schlagwörtern die speziell für die Disziplin entwickelten, normierten Vokabulare Thesaurus Sozialwissenschaften und Klassifikation Sozialwissenschaften (Thesaurus, Klassifikation). Über die daher gute fachliche und inhaltliche  Recherchierbarkeit hinaus werden auf SSOAR archivierte Volltexte von Suchmaschinen hervorragend indexiert und erzielen daher z.B. bei Google-Suchanfragen – mehr als 80 Prozent unserer Nutzer*innen kommen über Google – sehr hohe Rankings. Für eine verlässliche Langzeitverfügbarkeit der Volltexte kooperieren wir mit der Deutschen Nationalbibliothek (DNB), die sich um die Langzeitarchivierung kümmert.

Waren wir in den ersten Jahren vor allem damit beschäftigt, in SSOAR eine kritische Masse an qualitätsgeprüften, gut erschlossenen Volltexten im Open Access bereitzustellen, um in der Wissenschafts-Community anerkannt zu werden, fokussieren wir uns seit der zunehmenden Open-Access-Mandatierung der Forschungsförderer und der Einführung des unabdingbaren Zweitveröffentlichungsrechts im Jahr 2014 im Team zunehmend darauf, SSOAR zu einem relevanten Service zur nachhaltigen Archivierung von Volltexten im freien Zugriff auszugestalten, den Server in der – doch sehr fachspezifischen – Open-Access-Transformation der Disziplin zu profilieren und zu positionieren.

Bestärkt werden wir dazu nicht zuletzt durch neue Forschungsergebnisse des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), das in seiner empirischen Untersuchung »Open Access in der Berufsbildungsforschung«[1] sehr anschaulich das Bedürfnis der Wissenschaftler*innen zum Ausdruck bringt, mit der eigenen Publikation im fachlichen Kontext recherchierbar sein zu wollen. Darüber hinaus wird der Wunsch nach zielgruppengerechten Publikationsmöglichkeiten sehr deutlich. Open Access sollte – so die befragten Wissenschaftler*innen – von vertrauensvollen Institutionen organisiert werden.  

Dieser Perspektivenwechsel im Betrieb von SSOAR zeigt sich zum einen darin, dass wir bei GESIS unsere Wissenschaftler*innen stärker anhalten, im Open Access zu publizieren bzw. ihr Zweitverwertungsrecht zu nutzen. Gleichzeitig bieten wir ihnen einen Selbstarchivierungsservice an, der neben der Beratung zu den rechtlichen Möglichkeiten, oft auch der Rechteklärung, vor allem aber auch die ganz praktische Arbeit der Erstellung eines archivierbaren Postprints und dessen Veröffentlichung auf SSOAR beinhaltet.

Über eine zielführende Lizenzpolitik der Bibliothek unterstützen wir seit letztem Jahr noch gezielter das Open-Access-Publishing (Goldener Open Access) unserer Mitarbeitenden – einen Publikationsfonds bzw. den OA-Publikationsgebühren allokierte Mittel stellen wir bereits seit ein paar Jahren zu Verfügung. Neben den Publish & Read-Lizenzen mit den großen STM-Verlagen, vor allem im Rahmen des DEAL, und den Allianzlizenzen, nutzen wir aber auch die Angebote der für unsere Disziplin relevanten kleinen und mittelständischen Verlage. So zahlen wir beim Open-Access-Verlag Cogitatio Press eine jährliche Mitgliedschaftsgebühr, damit unsere Mitarbeitenden in dessen OA-Zeitschriften ohne weitere APC-Gebühren publizieren können.

Welche Bedeutung hat die Kooperation mit Verlagen dabei?

In den deutschen Sozialwissenschaften spielen kleine und mittelständische Verlage wie der Waxmann Verlag, der Verlag Barbara Budrich, der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, der transcript Verlag, die wbv Media (früher W. Bertelsmann Verlag) – um nur einige zu nennen – eine große Rolle in der Publikationskultur der Disziplin. Mit ihnen werden seit Jahrzehnten wichtige Publikationsprojekte realisiert. Dementsprechend waren die Kooperationen mit diesen Verlagen für den Aufbau der Fachrepositorien SSOAR und pedocs, den Server für die Erziehungswissenschaften, von zentraler Bedeutung. Gemeinsam mit Verlagen experimentierten wir auf dem noch jungen Feld des Open Access mit Kooperationsmodellen, die für beide Seiten eine Win-Win-Situation darstellte.

Für SSOAR hatte die Zusammenarbeit den Vorteil eines schnell wachsenden Contents von hoher und geprüfter wissenschaftlicher Qualität. Die Verlage nutzen über SSOAR eine Infrastruktur, um bislang nur im Print verfügbare Publikationen nachhaltig im Netz recherchierbar zu machen und die Auswirkungen freier Verfügbarkeit auf ihr Verlagsgeschäft zu erproben.

So wurden z.B. von einigen Zeitschriften umfassende Jahrgangsbestände fortlaufend auf SSOAR archiviert. Dazu wurden zurückliegende Jahrgänge nachträglich digitalisiert und zusammen mit den neueren Jahrgängen mit einer Embargofrist von drei Jahren auf SSOAR bereitgestellt. In einem anderen Modell wird aus aktuellen Sammelwerken jeweils ein Sammelwerksbeitrag quasi auch als Teaser im Open Access auf SSOAR zweitpubliziert. Ein weiteres Modell sah die zeitgleiche Publikation der Printausgabe sowie der Bereitstellung auf SSOAR vor.[2]

Diese Zeit des Ausprobierens seit 2007/2008 hat – wie ich denke – eine gute Grundlage des Vertrauens und der Kooperationsbereitschaft zwischen den sozialwissenschaftlichen Fachrepositorien (insb. SSOAR, pedocs) der Leibniz-Gemeinschaft und den für die jeweilige Disziplin relevanten Verlagen geschaffen, die uns in die Lage versetzt, gemeinsam den Herausforderungen der Open-Access-Transformation zu begegnen. Über zehn Jahre später werden Maßnahmen getroffen, die die Art, wie der Zugriff auf Literatur realisiert wird, nachhaltig verändern wird.

Ziel ist es, das Publikationswesen auf Open Access umzustellen und die Verfügbarkeit der Publikationen über die Publikationsgebühren der Autor*innen bzw. deren Einrichtungen zu realisieren. Dazu werden derzeit geförderte Read & Publish-Lizenzen zwischen den großen STM-Zeitschriften Verlagen (insb. Wiley, Springer) und den Bibliotheken des Landes abgeschlossen. In Abhängigkeit vom Publikationsaufkommen der Wissenschaftler*innen einer Einrichtung sollen langfristig entsprechende Mittel an diese Verlage fließen, die dann sowohl den freien Zugriff als auch das Open-Access-Publizieren ihrer Wissenschaftler*innen abdecken.

In diesem politisch und mit öffentlichen Mitteln unterstützten Transformationsprozess bleiben die kleinen und mittelständischen Verlage für unsere Disziplin bislang unberücksichtigt.

Was sind Ihre wichtigsten Ziele in Bezug auf die Open-Access-Transformation?

Die wichtigsten Ziele in Bezug auf die Open-Access-Transformation sehe ich darin, diese an der spezifischen Publikationskultur der einzelnen Disziplinen auszurichten und den Volltextserver SSOAR in diesem Transformationsgeschehen sinnvoll mit seinen Möglichkeiten zu positionieren und anzupassen.

Vor allem sollten wir uns die vielfältigen Publikationsmöglichkeiten in den Sozialwissenschaften erhalten. Dazu gehören neben den Zeitschriften insbesondere die Monographie- und Sammelwerkspublikationen, die mit den kleinen und mittelständischen Verlagen seit jeher realisiert werden.

Ein großes Potenzial sehe ich nach wie vor darin, wichtige Institutsreihen auch rückwirkend vollständig im Open Access auf SSOAR verfügbar zu machen. Das sichert deren langfristige Zugänglichkeit – digital und frei verfügbar im Netz. Das bedeutet aber auch, dass der Grüne Weg des Open Access, also die Zweitverwertung oder Nachnutzung bereits publizierten Contents, nach wie vor wichtig bleibt, insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften, in denen es noch weniger Möglichkeiten zum genuinen, also zum Goldenen Weg des Open Access gibt.

Darüber hinaus haben einzelne Reihenherausgeber ‒  Fachgesellschaften und Forschungseinrichtungen ‒ das Potenzial erkannt, sogleich primär über SSOAR erstzuveröffentlichen und nur den Link auf ihren Webseiten einzubinden. Dadurch werden Publikationen nicht erst unstrukturiert und schlecht auffindbar auf den Webseiten veröffentlicht und anschließend auf SSOAR (zweit)archiviert, sondern von vornherein gut erschlossen, gut im Netz recherchierbar und mit PID nachhaltig im Netz veröffentlicht. Daher positionieren wir SSOAR zunehmend auch als Publikationsplattform.

Was sind die wichtigsten Gründe für ihr Engagement in der ENABLE!-Community?

Die ENABLE!-Community wurde Ende 2018 vom Nationalen Kontaktpunkt (NOAK) ins Leben gerufen mit dem Ziel, Open Access in den Geistes- und Sozialwissenschaften voranzutreiben. Ihr gehören neben Verlagen und Bibliotheken auch Intermediäre und Fachrepositorien an, wie auch SSOAR zu den Enablern gehört.

Wurde die Community zu Beginn noch ganz entscheidend vom BMBF-geförderten NOAK organisiert, so muss sich die Gemeinschaft zunehmend selbst organisieren und sich neue Governance-Strukturen geben. Dazu hat sich ein Interims-Steuerungsgremium gebildet, dem auch ich angehöre.

Gleichzeitig haben wir in diesem Jahr ein Mission-Statement verabschiedet, das mittlerweile zahlreiche Verlage und Wissenschaftseinrichtungen/Bibliotheken unterzeichnet haben, und das eben genau auf die Publikationsvielfalt abzielt, die es meiner Meinung nach im OA-Transformationsprozess zu bewahren gilt, um der Publikationskultur in den Sozialwissenschaften auch unter dem Paradigma des Open Access gerecht zu werden.

Darüber hinaus haben wir in diesem Jahr unsere inhaltliche Arbeit in zwei Arbeitsgruppen aufgenommen. Die AG Finanzierung erarbeitet vor dem Hintergrund haushaltsrechtlicher Fragen und Fördervorgaben transparente Modelle zur Finanzierung von Open-Access und die AG Akteure modellieren Funktionalitäten und Zusammenarbeit der im Publikationsprozess beteiligten Akteure.

Das Ziel der Arbeiten in der ENABLE!-Community besteht darin, tragfähige Modelle des Co-Publishing zu etablieren, die ‒ auch wirtschaftlich ‒ erfolgreiches OA-Publizieren für kleine und mittelständische, zuweilen sehr mit der eigenen Wissenschafts-Community verbundenen Verlage ermöglichen.

Aus der Zusammenarbeit der in der ENABLE!-Community versammelten Player sind bereits bahnbrechende Initiativen wie die transcript OPEN Library Politikwissenschaft oder der wbv Open Library Erwachsenenbildung zur OA-Finanzierung von Publikationen von Monographien und Sammelwerken hervorgegangen. Grundlegend ist beiden Initiativen das Crowdfunding zur Finanzierung der Open-Access-Publikationen. Über Intermediäre wie Knowledge Unlatched (KU), teilnehmende Bibliothekslieferanten oder Versandbuchhandlungen können Bibliotheken finanzielle Pledges zur Realisierung einzelner Publikationsvorhaben abgeben. Kommt genug Geld zusammen, erscheint die Publikation im Open Access.

In diese Richtung müssen wir weiter denken, Funktionalitäten und Publikationsprozesse neu modellieren. In der ENABLE!-Community haben wir uns der Realisierung eines erfolgreichen disziplinabhängigen OA-Publishing in den für die Geistes- und Sozialwissenschaften seit jeher wichtigen, renommierten Verlagen jenseits der großen Zeitschriften-Verlage verpflichtet. Da bin ich mit unserem Server und der Publikationsplattform SSOAR gerne dabei.

 

[1] Vgl. Getz, Laura/Langenkamp, Karin/Rödel, Bodo/u.a.: Open Access in der Berufsbildungsforschung. Teil 1 – Darstellung des Projektverlaufs und Ergebnisse der Gruppendiskusisionen. BIBB-Preprint 2020 (https://lit.bibb.de/vufind/Record/DS-185303)

[2] Vgl. Bambey, Doris/Gebert/Agathe: Open-Access-Kooperationen mit Verlagen: Zwischenbilanz eines Experiments im Bereich Erziehungswissenschaften, in: B.I.T.-online 13 (2010) 4. S386-390. (https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/59472)

 

Weitere Informationen:

Teamleitung Bibliothek und Open Access
Social Science Open Access Repository (SSOAR)

Dr. Agathe Gebert
Abt.: Wissenstransfer
GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften
E-Mail: agathe.gebert@gesis.org